WG198 – Briefentwurf an Alma Mahler
Berlin, spätestens Sonntag, 3. September 1911

[Briefentwurf I]

Dieses edle Lernenwollen
in Dir
Was der Mensch einmal
wahrhaft empfunden hat,
an dem muß etwas sein!
   Wie ich bei meiner
großen Lebenslust
zu solchen Stimmungen
u Gedanken komme,
wirst du verstehen

Der herbste Schmerz kann

durch die Kraft einer
reinen u starken Seele
zu einem Stoffe werden
der das Geschick umbildet
u erfüllt

Fülle an

Kraft u Herzensgüte,
die d Genie kennzeichnen

Gerne würde ich mein Leben
dafür hingeben eins dieser
Werke geschaffen zu haben.
In mir liegt eine unge-
borene Welt, und es gilt
alle Mittel zu sammeln

 Ich sehne mich nach
Deiner Musik. in ihr strömt
Deine Seele so ungehemmt dahin
- eine unmittelbare Offenbarung
d. Geistes. Und das ist eine
herrlichste Sprache

 Du kannst Dich ja über
die Miserabilitäten hinweg \hoch empor/
schwingen u Dein Gemüt wird
sich immer freier u geläuterter
von allen Fesseln losringen

Ich war in der letzten Zeit
nicht sonderlich gestimmt
wenn der Körper disharmoniert,
erwacht die bedenkliche Seite
meiner Gropiusnatur, vor
der ich Dich selbst schon einmal
warnte. Da fehlte es dann
an dem \geistigen/ Stoff zu helfen,
aber ich dachte mit schwerem
Herzen könnte ich nur
was tun

 Schütte \erwarte/ Dein Füllhorn
wieder über mich ausschüttest

 Deshalb war die Sorge um
Dein geistiges u leibliches Wol
doch recht \sehr/ wach

 Du trägst alles so still
hin, denkst handelst und
leidest für Dich allein

Wenn ich die Ch \hinterste/
Kulisse wegschiebe,
funkelt es durch die
Spalten wie viel Licht.
Käme nur erst der
nächste Akt des Dramas.

________________________
Innerlich zerrissen sein
ist doch das größte Leid.

Du sollst frei sein u

Dich durch nichts vergangenes
gebunden fühlen. \Ich/ aber
will nichts erzwingen,
und habe auch im
Laufe d Geschehnisse gelernt
das warten \das ein zerstörender Zustand ist/ in ein Er-
warten zu verwandeln

 Gehn wir jeder seinen
gezeichneten Weg weiter –
Treue und Ausdauer wird ja
doch endlich belohnt werden

[Architektonische Skizze mit Maßangaben]

Ascher

  Grundstücke

Aus-

kunft

Mit 1000 Sorgen denke ich
an Dich, Du hast soviel
gelitten an Schmerz u Sehn-
sucht

Sonnenklar leuchtest Du
mir in alle finsteren
Winkel. \wunderbarster, klarster Mensch/

Ich muß meinen Wagen

so vorausfahren, daß ich
wieder an Deine Seite
gelange

Warte auf mich, ich

habe auf Dich gewartet,
nun tue desgl.[eichen]

Jetzt erst, von einem

ungeheuren Druck befreit, schnellt
Deine Natur zu ihrer ganzen
selbständigen Größe auf.

Dein Körper u Geist

scheinen aufzublühen
entfaltest Dich in der
neuen eigengeschaffenden
Atmosphäre. So schön –
Höhepunkt

Es /ist klar, alle die Fragen
u Zweifel, die ich in dem
langen Jahr durchkämpfte
kommen jetzt bei Dir nach.
Vieles kann man nur
allein mit sich abmachen,
aber in \über/ manchen Fragen
könnte ich Dirch helfen
schnell hinwegbringen, wenn
Du mir vertraust. Letzten \Zuletzt/
Endes giebt es nur zweierlei:
Wollen oder Nichtwollen
und in dem einen großen
Lichtschein gehen alle \sieht das Auge die/ klei-
nen Finsterniße nicht
mehr.

Ich habe keine Angst.
Du wirst bald wieder
ruhig und klar nach vorwärts
sehen Dein Zustand ###
mich m ###, obwol die Ursachen
anderer Art sind

Der Mensch, der in diesem
Leben zwischen Sehnsucht
u Erfüllung schwebt, kann
nichts tun als sich in
den Nachen werfen

Die Fesseln irdischer
Gedanken brechen

[Briefentwurf II]

Du geliebte \Liebe/ meines Herzens –

Heute laß mich offen zu Dir
reden. Ich liege, um mein
Kräftereservoir neu aufzufüllen
Du schreibst noch immer nicht
und doch ist mit einemmal
die Heiterkeit wieder da.
Wer giebt uns solche Stunden?

_________________________________
Du schreibst noch immer
nicht, so laß mich heute
offen zu Dir reden mit
1000 Sorgen denke ich an Dein
geistiges u leibliches Wol
\Könnte ich nur etwas tun um Dir
zur Klarheit \u Ruhe/ durch zuhelfen, denn/
Du trägst alles so still
hin, denkst, handelst u.
leidest für Dich allein

Du hast \nun/ genug Sehnsucht
u Schmerzen in einem
Jahre erlitten. sei gelassener
reibe Dich nicht inner-
lich auf, liebe .
und dämpfe das Tempo
in Dir. Die \Mit der/ Kraft Deiner
reinen u starken Seele
wirst Du ja doch alle
Miserabilitäten überwinden
und Dein Gemüt wird
sich immer freier u geläuter-
ter von allen Fesseln
losringen. Warte die
Zwiespälte in Dir werden
sich lösen – es quält
Dich jetzt vieles, auch
mein Dasein bringt
Dir im Augenblick \wie es scheint/ mehr
Pein wie \als/ Freude. Wolle

nur nichts, in Dir her-
vordrängen! und wo
Du sollst Dich frei sein,
Dich durch nichts ver-
gangenes gebunden fühlen.
Wir können ja nichts
erzwingen. Gehn wir
jeder seinen gezeichneten
Weg weiter, \aber/ sparen wir \doch/
nicht mit Liebe; Treue
und Ausdauer wird
doch endlich aus sich
selbst belohnt werden.
müssen.

 Ich war in der letzten
Zeit nicht sonderlich ge-
stimmt infolge körper-
licher Disharmonie, heut
liege ich um mein Kräfte-
reservoir wieder aufzu-

füllen. Das tut mir
gut und ich sehe schon
wieder durch die hin-
tersten Kulissen das
Licht flimmern und
hoffe auf eine heiteres
Geburt \Erschaffen/ der noch unge-
borenen Welt \die/ in mir
liegt.

[Fragment einer Briefreinschrift]

Sonntag 3. im Bett

Du schreibst noch immer nicht! Mit
tausend Sorgen denke ich an Dein
geistiges und leibliches Wol, Du
Liebe meines Herzens. Könnte ich
nur etwas tun, um Dir zur Klar-
heit und Ruhe durch zuhelfen. Du
hast nun genug Sehnsucht und
Schmerzen in einem Jahre erlitten.
Reib Dich nicht innerlich auf, liebe
, sei gelassener. Du hast allen
Grund, keine Scheu vor zu-
künftigem zu haben. Mit der
Kraft Deiner reinen und starken
Seele wirst Du ja doch alle
Miserabilitäten überwinden und
Dein Gemüt wird sich immer
freier und geläuterter von allen
Fesseln losringen. Die Zwiespälte
in Dir werden sich lösen! Es
quält Dich jetzt viel – und auch
mein Dasein bringt Dir jetzt,

2

traurige Resignation ein, die ich be-
kämpfe, wie den bösen Feind; aber
sonst, , bin ich derselbe,
Dich liebend, Dich ersehnend äußer-
lich und innerlich treu. Wie selten
eine so lautere Liebe wie die unsere
in heutiger Zeit ist, wird mir
klar und klarer im Vergleich mit
dem Treiben der mich umgebenden
Welt und ich für meinen Teil will
Sorge tragen, daß uns dies höchste
Gut nicht verderbe und hoffe, daß
die Kraft nicht ausläßt, wenn es nur
gilt, des hitzigen Blutes Herr
zu werden


Apparat

Überlieferung

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Quellenbeschreibung

14 Bl. (14 b. S.) – Briefentwurf I und II: Notizblock, Tinte (, , , ); Fragment einer Briefreinschrift: unbedrucktes Briefpapier, Tinte (, ); untere Hälfte des letzten Blattes fehlt ().

Druck

Erstveröffentlichung.

Korrespondenzstellen

Beantwortet durch AM105 vom 4. September 1911 (Dieses edle Lernenwollen in Dir): Ich möchte diesen Winter recht für mich ausnützen – viel lernen[,] leben und weiter kommen.

Datierung

Aufgrund der Korrespondenzstelle kann dieser Entwurf, bei einer Postlaufzeit von ein bis zwei Tagen zwischen Toblach und Berlin, spätestens am 3. September 1911 entstanden sein.

Themenkommentar

Übertragung/Mitarbeit


(Elisabeth Behnle)


A

Deiner Musik – s. Themenkommentar: Alma Mahlers publizierte Lieder.

B

Wendland, Kunsthistoriker und Kunsthändler, lernte 1908 in Spanien kennen und stellte ihn vor. Alle drei Männer verband das Interesse für maurische Keramik (, S. 389–391).

C

Schrägstrich im Original.

D

Nachen – dichterisch für Boot, Kahn.

E

[Briefentwurf II] – Obwohl die vier Blätter in Tinte verfasst wurden, ist aufgrund der Verwendung eines Notizblocks sowie der zahlreichen Korrekturen, Einfügungen und Durchstreichungen recht eindeutig, dass es sich hierbei um einen Entwurf handelt.

F

[Fragment einer Briefreinschrift] – Briefpapier, Anrede und Datierung sowie ein sehr sauberes Schriftbild sprechen für eine Briefreinschrift. Ob es sich um einen niemals abgeschickten Brief handelt oder ob sich schließlich für eine andere Version entschied, kann in diesem Fall nicht näher rekonstruiert werden.